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Geschichte des HVD

Der HVD: Philosophische Wurzeln in Antike und Aufklärung, organisatorische Wurzeln im demokratischen Aufbruch des Vormärzes 1845

 

Der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) wurde 1993 in Berlin gegründet und will drei Traditionsstränge zusammenführen und weiterentwickeln:

  • den in der antiken Philosophie wurzelnden bürgerlichen Bildungshumanismus

  • die religions- und sozialkritischen, wissenschaftsfördernden, demokratischen Impulse von Aufklärung, Arbeiterbewegung und Moderne

  • die Organisationstraditionen der freireligiösen / freigeistigen Bewegung seit 1845.

Die Geschichte der freigeistigen Bewegung in Deutschland ist spannend. Sie hat Höhen und Tiefen. Im 19. Jahrhundert mussten sich die so genannten Dissidenten alles unter persönlichen Nachteilen und gegen große Widerstände erkämpfen. Nachdem das Bündnis von Thron und Altar nach dem ersten Weltkrieg abgewirtschaftet hatte, blühte die Bewegung in der Weimarer Republik auf. Die Nazis stampfen dann alles wieder ein.

Nach dem zweiten Weltkrieg hatten die Kirchen im Westen die besseren Karten, weil viele Menschen wieder auf die Tröstungen der Religion zurückkamen und die DDR eine „gottlose“ Kontrastfolie bildete. Die erste Phase des Vertrauensschwundes der Kirchen nach der 1968er Kulturrevolution konnten die Freigeistigen leider nicht nutzen. Nach der Wende und besonders nach 9.11 versuchten die Religionen ein Come-back, das heute – mindestens in den westlichen Staaten – offensichtlich wieder zerbröselt. Die Stunde des säkularen Humanismus ist gekommen!

 

Bereits 1845, im so genannten Vormärz, entstanden auch in Rheinland-Westfalen „freireligiöse“ Gemeinden. Sie waren Teil einer Reformbewegung um den katholischen Kaplan Johannes Ronge und Robert Blum, einen wichtigen Vorkämpfer für Demokratie in der Revolution 1848/49; Ziel war die Befreiung von dogmatischer religiöser und kirchlicher Bevormundung in Gesellschaft, Schule und Staat. Durch das Scheitern der Revolution erlitt die Bewegung einen herben Rückschlag: in Preußen stabilisierte sich wieder das „Bündnis von Thron und (evangelischem) Altar“, viele Gemeinden zerfielen, während die katholische Kirche mehrheitlich den römischen Weg zu einer antimodernen Trutzburg beschritt. Dennoch gelang es den katholischen Reformern, zusammen mit den freiprotestantischen „Lichtfreunden“ 1859 in Gotha den „Bund freireligiöser Gemeinden“ zu gründen. Ihr Symbol wurde die Feuerschale, ihr Motto der Satz: „Frei sei der Geist und ohne Zwang der Glaube“.

 

feuerschale

 

In der Zeit der zaghaften Liberalisierung, nach dem Abgang von Bismarck, entwickelte sich dann in den 1890er Jahren im Kaiserreich eine breiter aufgefächerte freigeistige Szene: Aufgrund der Lektüre von Feuerbach, Marx und Darwin war das Ziel zunehmend nicht mehr „Freiheit in der Religion“, sondern „Freiheit von Religion“. Manche Gruppierungen nannten sich weiterhin „freireligiös“ oder „ethische Humanisten“, andere „Freigeister“, „Freidenker“ oder „Monisten“. Neben der naturwissenschaftlichen Religionskritik und der politischen Kirchenkritik wurden Ideen für weltliche Rituale und für eine weltliche Moralerziehung (Lebenskunde) anstelle von Religionsunterricht entwickelt. Das weltanschauliche Spektrum reichte von reform-christlichem Pantheismus bis zu konsequentem Atheismus, die politische Ausrichtung von linksliberal bis marxistisch; internationale Kontakte wurden aufgebaut. Insgesamt war man jedoch eine kleine dissidentische Minderheit; Deutschland blieb – anders als etwa Frankreich oder die USA – kulturell durch die beiden großen, sich seit der Reformation gegenseitig stabilisierenden christlichen Kirchen geprägt.

 

Dies änderte sich in der schwierigen, aber spannenden Aufbruchszeit nach dem verlorenen ersten Weltkrieg: Linksliberale, Sozialdemokraten und Sozialisten erkämpften in der Weimarer Republik mehr Rechte für die Konfessionsfreien. Viele Menschen verließen die Kirchen und die freigeistigen Organisationen blühten auf.

 

Schauen wir näher auf das Beispiel Bochum: Hier trafen sich am 10. September 1919 fünfzehn Gleichgesinnte zur erneuten Gründung einer freireligiösen Gemeinschaft. Schnell wuchs die Gemeinschaft auf (1930) 949 Mitglieder; Ortsteilverbände wurden gegründet, z.B. in Linden-Dahlhausen mit 1933 über 100 Mitgliedern; man redete sich mit „Gesinnungsfreund“ an. Ein reges freigeistiges Leben entwickelte sich: weltliche Passage-Riten wie Namensfeier, Jugendweihe, Hochzeitsfeier und Trauerfeier rahmten das Leben festlich ein; weltliche Feiertage wie die Sommer- und Wintersonnenwenden wurden öffentlich zelebriert, sonntags gab es eine weltliche „Sonntagsfeier“ mit Musik und Wortbeiträgen, und auch das gesellige Leben kam nicht zu kurz.

 

Sonnenwendfeier

 

Hinzu kam ein facettenreiches Kultur- und Bildungsprogramm. So gab es z.B. 1931 in Bochum Vorträge zu folgenden Themen: „Reiseeindrücke aus Russland“, „Die Kirche hat einen guten Magen, hat ganze Länder aufgefressen“, „Die Individual-Psychologie von Alfred Adler und das Freidenkertum“, „Entwicklungslehre“, „Geld regiert die Welt“, „Die christliche Ehe eine Versklavung des Weibes“, „Die Erschütterung des religiösen Bewusstseins“ sowie „Krise und weltliche Schule“.


Politisch stand die freireligiöse Bochumer Gemeinde der Arbeiterbewegung nahe; es gab enge Kontakte zu SPD und Gewerkschaften. Federführend war sie am Kampf für die weltliche Schule ohne staatlichen Religionsunterricht beteiligt; hiervon gab es in Bochum bis 1933 immerhin sieben.

 

1924 erfolgt in Deutschland der Zusammenschluss der Freireligiösen und der Freidenker zum „Volksbund für Geistesfreiheit“. Insgesamt hatte die Freidenkerbewegung in Deutschland in den zwanziger Jahren über eine halbe Million Mitglieder. Nach Ansicht eines kirchlichen Kritikers war dies jedoch z.T. der an die Mitgliedschaft gekoppelten günstigen Feuerbestattung geschuldet.

 

Die Rekonstruktion der ersten beiden Jahre unter der NS-Herrschaft fällt nicht leicht. Tragisch wirkte sich auf jeden Fall die Spaltung der Arbeiterbewegung in einen sozialdemokratischen und einen kommunistischen Flügel auch auf die freigeistige Bewegung aus. Organisierten Widerstand gab es wenig; manche versuchten, sich nach dem Vorbild der Kirchen – siehe das Konkordat von 1933 – mit den Nazis zu arrangieren und damit die Organisation zu retten, während die kommunistisch orientierten Freidenkerverbände bereits seit 1931 eingeschränkt und 1933 sofort verboten und verfolgt wurden. Dennoch wurden die weltlichen Schulen – auf Betreiben der Kirchen! – bereits im Sommer 1933 aufgelöst; die freireligiösen Gemeinschaften wurden 1934 und 1935 verboten; die führenden Köpfe gerieten ins Visier des NS-Verfolgungsapparats.

 

Nach 1945 gingen viele ehemalige Mitglieder der freigeistigen Bewegung mit großem Elan den Wiederaufbau ihrer Ortsgruppen an, so auch die freireligiöse Gemeinde Bochum. Bald entstanden wieder landesweite Zusammenschlüsse. Dennoch war die Situation nicht mit 1919 vergleichbar: Die Kirchen hatten einen klaren Startvorteil, weil ihre Organisationsstruktur dank ihres Arrangements mit dem NS-Staat intakt geblieben war. Schnell wuchs ihnen neue moralische Autorität zu, sodass sie ihre privilegierte staatsrechtliche Position noch ausbauen konnten. Auch die freigeistige Szene versuchte zunächst erfolgreich, sich als Hoffnungsträger und moralische Instanz für die junge, von den Siegermächten wieder eingeführte Demokratie anzubieten und war im öffentlichen Leben von Bochum sehr präsent: Vorträge handelten 1947 von „Philosophie – eine natürliche Weltsinndeutung“, „Wozu sind wir eigentlich auf Erden?“ oder „Wenn es keinen Gott gibt, was dann?“
 
Die Lebensfeiern fanden wieder im großem Rahmen statt: so wurde die Jugendweihe 1952 am Ostersonntagmorgen mit Rezitationen und viel klassischer Musik von Gluck, Mozart und Beethoven im großen Bochumer Rathaussaal gefeiert. 1956 verlieh der NRW-Landtag der freireligiösen Landesgemeinde die günstigen Körperschaftsrechte, um sie als Weltanschauungsgesellschaft den Kirchen gleichzustellen, und 1961 hatten die Freireligiösen in Bochum etwa 800 und in NRW etwa 20.000 Mitglieder.

 

Gleichwohl geriet die freigeistige Bewegung bereits seit den 60ern in schwierigeres Fahrwasser, was sich an sinkenden Mitgliederzahlen, zunehmender Überalterung und schwindender öffentlicher Wahrnehmung festmachen lässt. Ein Grund ist sicherlich die starke politisch/kulturelle Polarisierung im kalten Krieg, die auch die ursprünglich säkulare SPD mit ihrem Godesberger Programm 1959 ins westliche, kirchenfreundliche Lager drängte. Kirchenferne wurde mit Unmoral, Kommunismus und DDR gleichgesetzt; beim Thema „Jugendweihe“ dachten viele Bundesbürger*innen nur noch an die staatliche DDR-Jugendweihe. So wurde es schwieriger, junge Leute zu gewinnen, während die Kirchen mit der Kindstaufe kontinuierlich ihren Nachwuchs rekrutierten. Hinzu kam nur geringes Verständnis für den Kulturwandel im Kontext der 68-er Bewegung. Auch hier gelang es den Kirchen erfolgreicher, Impulse dieser Bewegung – z.B. über Martin Luther King – zu integrieren und sich insgesamt zu liberalisieren. Ein weiteres Problemfeld der freigeistigen Szene waren unproduktive Differenzen zwischen sozialdemokratischen, liberalen und kommunistischen Flügeln.

 

1974 nahm die Landesgemeinschaft NRW mit der neuen Bezeichnung „freigeistig“ Abschied von der Bezeichnung „freireligiös“, die zunehmend zu Missverständnissen geführt hatte: Wer die Organisation und ihre Ziele nicht kannte, dachte bei diesem Begriff eher an eine evangelikale Freikirche. Der Mitgliederschwund konnte aber durch die Namensänderung nicht aufgehalten werden, zumal der postmoderne Zeitgeist seit den späten 70ern Religion und Mystik für viele junge Menschen wieder interessant machte. Kirchenkampf galt als überholt, Religionskritik als unnötig; beim neuen Großthema „Ökologie“ näherten sich Linke und Religiöse einander an. Dennoch boten die Landesgemeinschaft und auch die Bochumer Ortsgruppe in den 80ern noch ein ansprechendes Feier- und Veranstaltungsprogramm.

 

1993, nach Wende und Wiedervereinigung, zählt die freigeistige Landesgemeinschaft NRW zu den Gründungsmitgliedern des Humanistischen Verbands Deutschlands (HVD). Seitdem arbeitet der HVD daran, sich in zahlreichen Publikationen und Diskussionsveranstaltungen von der freidenkerischen religions- und kirchenkritischen Positionierung loszulösen, den Begriff „Humanismus“ neu zu zentrieren, seine Geschichte aufzuarbeiten und für verschiedene Lebensfragen eine humanistische Position zu entwickeln.

 

HVD NRW

Zugleich wird der praktische Humanismus betont: Vor allem in Berlin/Brandenburg und in Nürnberg - dort seit einigen Jahren allerdings nicht mehr unter dem Dach des HVD, sondern unter dem Namen "Humanistische Vereinigung" - gelingt unter günstigen Rahmenbedingungen die erfolgreiche Weiterentwicklung zum breit aufgestellten weltlichen Sozial-, Kultur- und Bildungsträger. Hierbei hilft die freireligiöse Traditionslinie, die ja schon im 19. Jahrhundert weltliche Alternativen zum kirchlichen Feier- und Sozialprogramm entwickelte.

 

Der Landesverband NRW kann sich seit der „humanistischen Wende“ mit der erneuten Profilschärfung stabilisieren; gleichwohl verzeichnet er – wie viele andere Verbände und Organisationen und nicht zuletzt die Kirchen – einen kontinuierlichen Mitgliederschwund. Seit den 2010er Jahren gelingt es, diesen Trend abzubremsen; neue Mitglieder mit neuen Ideen werden gewonnen, und an einigen Orten in NRW wächst neues humanistisches Leben.

 

 

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